Die Schüsse kommen aus verschiedenen Richtungen. Genau wie die Schreie. Der entspannte Morgen scheint sich in plötzliches Chaos verwandelt zu haben.
Er sieht, wie sich Kollegen rechts und links von ihm zu Boden werfen. Wie aus dem Nichts steht der Maskierte vor ihm. Das Sturmgewehr zielt auf sein Gesicht. Er versteht die gebrüllten Befehle nicht. Dafür aber den hektisch vor seinem Gesicht auf und ab gestikulierenden Lauf der Waffe. Er kniet sich auf den Schotter des Parkplatzes. Noch bevor er den Schmerz in seinem Knie richtig wahrnehmen kann, wird sein Oberkörper nach vorne gedrückt. Er liegt mit dem Gesicht in den kleinen, runden Steinen. Ehe er Gelegenheit hat, sich zu orientieren, wird sein Kopf von hinten angehoben und seine Augen werden mit einem Tuch verbunden. Dunkelheit.
Zwei starke Hände richten ihn auf, bis er schmerzhaft auf dem Schotter kniet. Seine Hände werden vor dem Körper mit einer Art weichem Strick gefesselt. Anschließend wird er unsanft hochgezogen und vorwärts geschoben. Seine Hüften stoßen an eine Kante. Er wird hochgehoben und auf eine unebene Metalloberfläche gezogen. Neben sich spürt er weitere Körper in verkrampfter Haltung. Enge. Ein Motor startet und der Metallboden vibriert. Er scheint sich auf der offenen Ladefläche eines Fahrzeugs zu befinden.
Als sich der Pickup in Bewegung setzt, wird er gegen die neben ihm sitzende Person geworfen. Er versucht, sich mit den gefesselten Händen an seinem Sitznachbarn festzuhalten. Dieser brüllt ihm einen unverständlichen Befehl ins Gesicht und drückt ihn energisch zurück an die Bordwand.
So hatte er sich den Tag nicht vorgestellt…
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Im Oktober 2024 kam es zu einer Premiere im IBZ Schloss Gimborn. Vom 28. bis zum 30.10. fand ein internationales Pilotseminar zum Themenschwerpunkt „Reisesicherheit in Krisengebieten“ statt. Das IBZ hatte die Tactical Survival Concepts GmbH mit der Konzeption und Durchführung dieses brandneuen Fortbildungsprojektes beauftragt.
Der neu ins Seminarprogramm 2024 aufgenommene Lehrgang „HEAT für Polizeibeamte im Auslandseinsatz – Überleben in Extremsituationen“ hatte auf Anhieb das Interesse von IPA-Mitgliedern aus sechs verschiedenen Nationen geweckt. Und so versammelten sich am Vorabend des Seminarauftaktes Teilnehmer*innen und Trainer in der Turmbar, um sich gegenseitig zu beschnuppern und kennenzulernen.
Hinter dem etwas sperrig klingenden Titel des Seminars, verbirgt sich ein neukonzipiertes Trainingsformat, dass den besonderen Herausforderungen von Leben und Arbeit in einem Krisengebiet Rechnung trägt. Es wurde vornehmlich für Polizeikräfte erstellt, die sich für die Teilnahme an einer polizeilichen Auslandsmission im Rahmen eines UN- oder EU-Mandates interessieren und sich auf die besonderen Umstände in ihrem zukünftigen Arbeitsumfeld vorbereiten möchten. Jedoch war die Resonanz im Kollegenkreis nicht auf internationale Polizeimissionen beschränkt. Auch Mitarbeiter von Justiz und Zoll suchten Antworten auf Sicherheitsfragen im eigenen beruflichen „hostile environment“. Vervollständigt wurde der Teilnehmerreigen durch Kolleg*innen, die sich adäquat für Individualreisen in entlegene Gegenden dieser Welt, ohne existierende Rettungskette, wappnen wollten.
Reisen und Arbeiten in einem Krisengebiet bergen Gefahren, auf die die meisten von uns nur sehr rudimentär vorbereitet sind. Hygienische Unzulänglichkeiten, lebensfeindliche Landschaften, ein extrem hohes Gewaltpotential innerhalb der Bevölkerung, eine Unmenge an Kriegswaffen in zivilen Händen, verminte Landstriche – all das stellt nur einen Teil der ständig präsenten Gefahrenquellen in vielen Einsatz- und Reisegebieten dar.
Wir Polizeibeamte haben normalerweise schon berufsbedingt den Anspruch an uns selbst, in der Öffentlichkeit als Sicherheitsgaranten wahrgenommen zu werden. Wir sehen uns als Kümmerer und Macher, die sich jeder Herausforderung stellen, um Gefahren abzuwehren und Opfern im Bedarfsfall unterstützend zur Seite zu stehen.
Die Möglichkeit, im täglichen Dienst selbst Opfer zu werden, ist den meisten von uns sicher latent bewusst. Aber aufgrund unserer fundierten Aus- und Fortbildung sowie des starken kollegialen Netzwerkes, behalten wir in der Regel die Oberhand.
Ganz anders aber kann sich die Situation auf Reisen in kritischen Ländern oder gar im Rahmen von Auslandseinsätzen in Krisenregionen darstellen. Wir sehen uns in einen Kontext versetzt, in dem wir Gäste ohne jegliche exekutive Rechte sind. Weder sind wir örtlich, noch sachlich zuständig. Wir unterliegen derselben Rechtsprechung, wie die Bürger des Gastlandes. Höchstens können wir uns in Teilbereichen auf „internationales“ Recht berufen – was auch immer man darunter verstehen mag. Wir müssen umdenken und das Thema „Sicherheit“ aus einer anderen, für viele von uns neuen Perspektive betrachten.
Wer macht sich zum Bespiel schon gerne Gedanken darüber, potentiell Opfer einer Entführung zu werden. So verständlich eine solche Vermeidungshaltung auf den ersten Blick auch sein mag, ist sie doch in keiner Weise zielführend. Denn in bestimmten Einsatzgebieten und/oder Gegenden einiger Reiseländer ist die Entführung von Ausländern zwar nicht an der Tagesordnung, aber mitunter durchaus gelebte Praxis. Lediglich eine konstruktive Auseinandersetzung mit dieser unbequemen Thematik versetzt uns in die Lage, unsere Überlebenschancen eigenverantwortlich und aktiv deutlich zu erhöhen, sollte das bisher Undenkbare eintreten.
Was mache ich bei plötzlich ausbrechender Gewalt in meiner unmittelbaren Umgebung? Ohne Waffe und ohne Exekutivrechte? Mische ich mich ein und werde vielleicht selbst zum Opfer? Oder schaffe ich körperliche Distanz und beschränke mich auf die Rolle des Beobachters und späteren Zeugen?
Der Beantwortung dieser Fragen und dem Aufzeigen neuer Lösungsansätze widmete sich das HEAT-Seminar für Polizeikräfte im IBZ Schloss Gimborn im vergangenen Oktober.
Geleitet wurde das Training von Albert Mlakar, einem ehemaligen Berufssoldaten der Bundeswehr, und Mario Nowak vom Polizeipräsidium Köln. Tatkräftig unterstützt wurden sie von diversen Trainerinnen und Trainern der Tactical Survival Concepts GmbH aus Dortmund, viele von ihnen selbst IPA-Mitglieder.
Neben Vorträgen zu Themen wie „Risikoanalyse“ und „Situative Aufmerksamkeit“, wurden etwa die Planung und Durchführung einer Überlandfahrt in guerillakontrolliertem Territorium, unter Anwendung der sogenannten Risikomatrix, und das Verhalten im Falle von Naturkatastrophen in Arbeitsgruppen erarbeitet. Vom Stoppen potentiell lebensbedrohlicher Blutungen, über das Erkennen und Vermeiden von Sprengfallen und Minenfeldern, bis hin zum realitätsnahen Erleben eines Entführungsszenarios waren die drei Seminartage angefüllt mit überlebenswichtigen Lerninhalten, die auf Englisch vermittelt wurden.
Natürlich kamen auch der kollegiale Austausch und der Spaß nach getaner Arbeit, abends in der Turmbar des Schlosses nicht zu kurz. Patches und Coins aus Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Österreich und Spanien fanden neue Besitzer.
Nach Ablauf der drei Tage waren sich die Teilnehmer*innen dann auch einig, dass diese viel zu schnell vergangen waren. Der Wunsch nach einem zukünftig noch längeren Training zur Thematik wurde im Rahmen der Rückmelderunde mehrfach formuliert. Für Trainierende wie Trainer war das Seminar eine runde und gelungene Sache, die hoffentlich neue Impulse im individuellen Umgang mit persönlichen Sicherheitsaspekten setzen konnte.